Behandlungsleitlinien, Behandlungsrichtlinien
Entstehung
Die Entstehung der heutigen Behandlungs­richtlinien geht zurück auf Dr. Harry Benjamin. Reid Erickson, ein FzM-Transsexueller, der unter der Aufsicht und Behandlung von Harry Benjamin als Mann zu leben begann, gründete 1969 die "Erickson Educational Foundation" (EEF), um die Studie der Transsexualität zu fördern. Die EEF unterstützte eine Reihe von internationalen Symposien (International symposia on Gender Identity), aus denen 1979 die Harry Benjamin International Gender Dysphoria Association (HBIGDA), 2007 in ↗ World Professional Accociation for Trangender Health (WPATH) unbenannt, hervorging.
Als erste Organisation formulierte die HBIGDA 1979, auf Grundlage von Dr. Harry Benjamins Ausführungen, Standards für das Verstehen und die Behandlung von Geschlechtsidentitätsstörungen, internationale Leitlinien zur Vorgehensweise bei der Psychotherapie, der Hormongabe und Operationen. Diese ↗ Standards of Care for Gender Identity Disorders (SoC) sind heute in der 7. Version (2011) verfügbar.
Da diese Standards in Deutschland aber nur begrenzt anwendbar waren, entwickelte 1997, auf Grundlage ihrer 5. Version, eine Kommission aus der ↗ Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS), der Akademie für Sexualmedizin (ASM) und der Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Sexualtherapie (DGSMT) die Deutschen Standards der Behandlung und Begutachtung von Transsexuellen.
Im April 2001 hatte die Projektgruppe P29b des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS - Beratung der Spitzenverbände der Krankenkassen und Koordinierung der Arbeit der MDKs) auf Grundlage der von ihr erkannten "Mängel" in den Deutschen Standards der Behandlung und Begutachtung von Transsexuellen und einer hessischen MDK-Studie einen Abschlußbericht vorgelegt, der bundeseinheitliche Behandlungsmaßnahmen bei Transsexualität empfahl.
Da dieser Abschlußbericht sicherlich nicht unumstritten war, hatte Dr. Hans-Günther Pichlo (MDK-Nordrhein), auf Anregung und unter Mitwirkung des Abeitskreis "Transsexualität in NRW", bestehend aus namhaften Ärzten, Psychologen und Therapeuten, sowie Vertretern verschiedener SHGs, 2002 das Informationspapier ↗ Transsexualismus - Diagnose, Behandlung und Begutachtung verfasst, das die Richtlinien des MDK-Nordrhein zur Zustimmung zur Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung wiedergab.
2009 wurden aus den Leitlinien Richtlinien. Während Leitlinien Handlungsempfehlungen sind, die nicht auf Gesetze beruhen, sind Richtlinien verbindliche Handlungsanweisungen, die eine Gesetzesgrundlage haben.
In diesem Jahr ist eine vom MDS in einer Arbeitsgruppe der MDK-Gemeinschaft, dem GKV-Spitzenverband sowie den Bundesverbänden der Krankenkassen erstellte Begutachtungsanleitung - Geschlechtsangleichende Maßnahmen bei Transsexualität in Kraft getreten, die nunmehr als Richtlinie eine bundesweit einheitliche und koordinierte Vorgehensweise bei der Begutachtung gewährleisten sollte. In ihren Anlagen waren die zugehörigen Gerichtsurteile, Gerichtsbeschlüsse und Gesetzestexte aufgeführt.
Auf Anregung durch eine Anfrage des Gesundheitsministeriums NRW (MGEPA NRW) lud 2011 die DGfS weitere Fachgesellschaften zu einer gemeinsamen Arbeitsgruppe "Leitlinienentwicklung Geschlechtsdysphorie" ein, um die veralteten Deutschen Standards von 1997, gestärkt durch die aktuellen Standards of Care der WPATH und den aktuellen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bezüglich des Transsexuellengesetzes (TSG), zu ersetzen.
Unter dem Dachverband ↗ Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) entwickelten sie seit 2012 die Leitline Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans*-Gesundheit: Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung. Anfang 2017 stellten sie eine Entwurfsfassung zur Kommentierung ins Internet. Am 09.10.2018 wurde die ↗ Endfassung veröffentlicht.
Diese Leitlinie sollte sich an den in der Psychiatrie der USA verwendeten Kriterien der "Diagnose Gender Dysphoria" aus der fünften Auflage des von der American Psychiatric Association (APA) 2013 herausgegebenen Klassifikationssystems, dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM), dem diagnostischen und statistischen Leitfaden psychischer Störungen, orientieren.
Das Ziel dieser AWMF-Leitline, die ja nur eine Empfehlung ist, war die Einflussnahme auf den Entscheidungs- und Handlungsspielraum von Behandlern durch ihre methodische Entwicklung, einem repräsentativem Gremium, systematischer Recherche und strukturierter Konsensfindung.
Aktuell
Am 30.11.2020 veröffentlichte der MDS, "aufgrund der neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Geschlechtsinkongruenz und Genderdysphorie und nach Veröffentlichung der AWMF-Leitlinie (..) und aufgrund der aktuellen Sozialrechtsprechung" eine aktualisierte Fassung der Begutachtungsanleitung - Geschlechtsangleichende Maßnahmen bei Transsexualität.
Trotz der Bezugsnahme auf die AWMF-Leitlinie weicht diese Richtline auch entscheidend von ihr ab, was auch zu kritischen Stellungsnahmen der ↗ Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. (DGTI), des ↗ Bundesverband Trans (BVT) und des Netzwerks Geschlechtliche Vielfalt Trans* NRW (NGVT* NRW) führte.
Anmerkung: zur geschichlichen Entwicklung siehe auch Entstehung und Entwicklung der Trans-Begriffe, Entstehung des Transsexuellengesetzes (TSG) und Diagnoseschlüssel (ICD)